„Das ist eine riesige Sauerei“, schimpft Noell – und über 50.000 Iren haben innerhalb von drei Wochen bei einer Online-Petition genauso abgestimmt. Die Regierung ist eingeknickt, die Aufregung bleibt. Es geht um eine Gedenkfeier zum Unabhängigkeitskrieg vor 100 Jahren, bei der auch der „Black and Tans“ gedacht werden soll, einer brutalen irischen Schlägertruppe aus dem Jahr 1920, die im Auftrag der britischen Besatzer brandschatzend durchs Land zog, und die die Initiatoren der Petition mit der „SS“ der Nazis vergleichen. Geschichte ist in Irland allgegenwärtig, seit Jahrhunderten.
Es begann mit der Ankunft des normannischen Ritters Strongbow aus Britannien anno 1170. Es verfestigte sich die englische Fremdherrschaft mit der Ansiedlung protestantischer Einwanderer aus Schottland und England in Nord-Irland unter König Jakob I. im Jahr 1609. Und immer wieder floß irisches Blut, besonders viel während des Kreuzzuges von Oliver Cromwell 40 Jahre später. Schließlich brach zur Freude vieler seit Jahrhunderten nach Unabhängigkeit durstenden Iren 1914 der Erste Weltkrieg aus. Die verhaßten Briten waren mit den Deutschen beschäftigt, dessen kaiserliche Armee den „Irish Volunteers“ 20.000 russische Gewehre und Millionen Schuss Munition versprach.
Ich schreibe diesen Text anno 2020 in unserem Winterdomizil im Dörfchen Kilcrohane, 20 Minuten von Bantry entfernt, dem nächstgrößeren Fischerort mit etwa 2.750 Einwohnern an der südwestlichen Spitze der Insel im County Cork. Vor mir liegt ein Heftchen mit dem Titel „Bantry Remembers 1916-1921“, das die letztlich entscheidenden Jahre im Unabhängigkeitskampf fernab der Hauptstadt auf dem Land beschreibt (den nachfolgenden Bürgerkrieg jedoch ausblendet – im Gegensatz zu mir weiter unten).
Die Partisanenangriffe zeigten schnell Wirkung: Die Briten trauten sich nur noch in schwer bewaffneten Hundertschaften ins Hinterland und es drohte ihnen, die Kontrolle über ihr seit Jahrhunderten besetztes Territorium zu verlieren. Die Antwort des amtierenden Kriegsministers Winston Churchill hieß 1920 „Black and Tans“ und „Auxiliaries“. Welche der beiden die schlimmere Truppe war, ist strittig. Diese paramilitärischen Einheiten galten als Hort von Mördern, Terroristen und Trunkenbolden. Vor 100 Jahren, im März 1920, erschossen sie beispielsweise den Bürgermeister von Cork und Sinn-Féin-Mitglied Tomás MacCurtain zuhause vor den Augen seiner Frau. Im Sommer 1920 zerstörten die „Black and Tans“ ganze Städte und Dörfer Irlands, unter anderem Tuam, Trim, Balbriggan, Knockcroghery, Thurles, Templemore und Tralee, die Innenstadt von Cork wurde niedergebrannt. „Auch bei meinen Großeltern hier in Kilcrohane haben sie im Haus unten am Wasser die Tür eingetreten und nach Waffen der IRA gesucht“, erinnert sich Noell und spuckt verächtlich auf den Boden.
100 Jahre ist das her, Zeit zum versöhnenden Gedenken, dachte sich die amtierende irische Regierung. Eine großangelegte Gedenkfeier für die „R.I.C.“ und ihre Helfershelfer wie die „Black and Tans“ im „Dublin Castle“ war geplant – doch Ministerpräsident Leo Varadkar und sein Justizminister hatten die Rechnung ohne die Erinnerungen ihrer Landsleute gemacht. Kein Tag verging Anfang dieses Jahres, ohne dass ich jemanden über die „Black and Tans“ habe reden hören, ganz gleich welchen Alters. Und die Aussagen waren immer dieselben: Kein „Heldengedenken“ für „Terroristen“. Die Regierung sagte die Veranstaltung schließlich ob des landesweiten Protestes ab und setzte Neuwahlen an. Ein Zusammenhang wird bestritten.
Nach gut zwei Jahren endete der Unabhängigkeitskrieg 1921 mit einem Waffenstillstand, auf den folgte der sogenannte „Anglo-Irische Vertrag“, der Irland eine weitgehende Autonomie, aber keine echte Unabhängigkeit bescherte. Unterschrieben hatte ihn auf irischer Seite unter anderem Michael Collins. Ein Mitglied der britischen Delegation sagte daraufhin, er habe womöglich sein politisches Todesurteil unterschrieben, woraufhin Collins erwidert haben soll: „Ich habe womöglich mein tatsächliches Todesurteil unterschrieben.“ Er sollte recht behalten.
Die Befürworter und die Gegner des Vertrages lieferten sich ein Jahr lang einen noch blutigeren Bürgerkrieg. Iren töteten Iren, weil der Vertrag die faktische Teilung der Insel beinhaltete, die bis heute andauert: Die sechs nördlichen Grafschaften gehörten fortan zum britischen Nord-Irland, die 26 anderen zur Republik Irland. Am Ende des Bruderkrieges siegten die Vertragsbefürworter. Und 1949 erhielt Michael Collins posthum recht – Irland wurde tatsächlich zu einer unabhängigen Republik. Da war Collins jedoch bereits 27 Jahre lang tot: Auf dem Rückweg von einem Verwandtenbesuch geriet er am 22. August 1922 im Dorf Béal na mBláth unweit von Bantry mit seiner Wagenkolonne in einen Hinterhalt von IRA-Vertragsgegnern und wurde in einem halbstündigen Feuergefecht erschossen. Außer einem Gedenkkreuz am Ort des Attentats gibt es inzwischen sogar einen Hollywood-Film mit dem Titel „Michael Collins“ mit Liam Neeson und Julia Roberts in den Hauptrollen.
An der Stelle, an der Michael Collins ermordet wurde, stehen heute ein Kreuz und ein Gedenkstein.
Die allgegenwärtige Geschichte erfährt in Irland dagegen dieser Tage ihre Fortsetzung: Am 31. Januar 2020 tritt Großbritannien inklusive Nord-Irland aus der EU aus. Damit läuft Irland nach Jahren der friedlichen Koexistenz wieder Gefahr, an einer „harten“ Grenze Blut zu vergießen. Die „neue IRA“ bastelt jedenfalls bereits an Bomben – ganz nach alter Tradition …
Lesetipp: “GEO EPOCHE” Nr. 90/2018 „Irland 1170 – 2018: Die Geschichte der Grünen Insel“
Fotos: Lars Bessel, Michel Collins: Von Unbekannt – Encyclopædia Britannica, Inc., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39491396